Wir sind Hummel – oder: Vier Blendendstufen Push sind Pillepalle

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So, nun bin auch ich in mein Archiv hinabgestiegen und habe mich nach Perlen umgeschaut. Ich wurde fündig: im Mai 2012 schrieb ich auf meinem alten Blog einen Artikel über die Extreme dessen, was ein Schwarzweißfilm so aushält. Wir haben da mit einer begeisterten Gruppe lieber Menschen in Tübingen Schwarzweißfilme gequält. Wir haben sie in viel Licht gebadet und wir haben sie verhungern lassen. Und dann wurden hier Push und Pull praktiziert, zwei altbekannte Techniken aus der Tiefe des Fotografenvoodo.

Gemeinsam haben wir die Techniken vom Staub freigepustet, die Foto-Schamanen nach Hause geschickt und das Wissen allen zugänglich gemacht. Und heißaaaaa \o/ waren das tolle Ergebnisse und tiefe Einsichten.

Darum hier ohne weitere Vorrede noch mal der Original-Artikel über die Hummel und warum sie fliegen kann:

Es gibt Workshops und es gibt Workshops. Im Fall der aktuellen Absolut-Analog-Veranstaltung in unseren neuen Räumen in Tübingen, war es ganz klar einer der spezielleren. Und das im positiven Sinne. Mit Begeisterung und Spaß haben sich die Teilnehmer den unwirtlichen Lichtbedingungen gestellt, vor die wir sie geschubst haben und was dabei raus kam, seht ihr hier.

Der Push

Am Anfang zum Aufwärmen und dran gewöhnen haben wir erst mal mit einem Push über 2 Blendenstufen angefangen. Standardprozedur, nix wildes. Nur wer meinte, der Push wäre nur zum „heller machen“ da oder zum verkürzen der Belichtungszeiten in dunklen Situationen, der durfte sich dann über die ungewohnte Kontrastausbeute freuen. Bei prallem Sonnenlicht. Steffens Klappfalter war da dann sogar etwas überfordert, weil er keine tausendstel Sekunde konnte. Ergebnis: herrlichste Kontraste im prallsten Licht.

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2-Stufen-Push (Alex)

Die Hummel

An dieser Stelle kurz die Anekdote mit der Hummel. Aerodynamiker haben dereinst behauptet, die Hummel könne aus physikalischer Sicht nicht fliegen. Verhältnis Körpergröße und Gewicht zu Flügelfläche oder so. Die Hummel hat nun mal leider von Aerodynamik so ziemlich überhaupt keine Ahnung und darum schlägt sie einfach mit den Flügeln und … fliegt.

Der Pull

Phase zwei – wir nennen sie jetzt einfach mal die Hummel-Phase – ist die mit dem Pull über drei Stufen. Also die Behandlung eines ISO-400-Films als hätte er ISO 50. Ausgeschrieben ist das die 8-fache Menge an Licht, die er eigentlich bekommen soll. In manch einem Online-Forum liest man, dass das nicht geht. Auch die Ausbeute an Entwicklungsrezepten, die man für diesen doch eher ungewöhnlichen Fall online so findet, ist so gering, dass man fast meinen möchte, es ginge tatsächlich nicht.

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3-Stufen-Pull (Alex)

Aber wir waren einfach mal ganz Hummel, haben uns nicht verunsichern lassen, und die Ergebnisse sprechen tatsächlich deutlich für sich. In diesem Fall war das ein T-Max 400 in D-76, 1:1, 7min20sek bei 20°C.

Es geht halt doch, und zur Belohnung für den Ungehorsam bekamen die Fotografen dann herrlichste Grauverläufe mit extrem viel Detail und einem Kontrastumfang, der seinesgleichen sucht. Gut gemacht!

Was gelernt

Und auch wir selbst lernen jedes mal noch etwas dazu. In diesem Fall hatte ich (Chris) mir eine sehr kontrastreiche Situation (Innenraum mit Fenster und sonnenbeleuchteter Umgebung außen) geschnappt und eine Belichtungsreihe mit sieben Belichtungen mit je einer Blendenstufe Unterschied gemacht. Was am Ende hinten raus kam, hat selbst mich verblüfft.

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Bild 1: 1/1000s
chris_pull2
Bild 2: 1/15s

Die Ausarbeitung der Bilder wurde am Ende zwar noch minimal angepasst, aber alleine die Tatsache, dass der Film bei diesem 3-Stufen-Pull locker – und ohne irgendwo Zeichnung zu verlieren – diese sieben Blendenstufen breite Belichtungsspanne einfach so ohne zu murren wegsteckt, hat sogar mich weggehauen. Zieht man noch den gesamten Kontrastumfang der Szene in Betracht, dann wird hier eine Breite an Tonwerten erfasst, die fast unmöglich erscheint. Ich werde ab jetzt garantiert noch öfter Pullen. HDR? Wer braucht das? 🙂

Der Nachbrenner

Am Abend haben wir dann Phase 3 unseres gerissenen Plans gestartet und unter den Teilnehmern den Pushwettbewerb losgetreten. Zur blauen Stunde und zur tiefen Nacht. Wieviele Blendenstufen verträgt so ein TriX oder T-Max 400 wohl?

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TriX 400 @ 1600 (Moni)
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TriX 400 @ 1600 (Moni)


Gut, 1600 laufen also. Wie sieht es mit 3200 aus?

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TriX 400 @ 3200 (Steffen)
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TriX 400 @ 3200 (Steffen)

ISO 3200 wird also schon etwas knackiger, aber hat dadurch natürlich auch eine entsprechende Wirkung, der man sich schlecht entziehen kann.

Wollen wir noch eins drauf legen? ISO 6400 – Herrrrrrrrschaften! Der Push über 4 Stufen – ohne Netz und doppelten Boden! Jetzt nur für Sie in dieser Manege! Trommelwirbel… *drrrrrrrr*

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T-Max 400 @ 6400 (Alex)

Och, wer sagt’s denn. War doch gar nicht so schlimm. Sogar Graustufen haben wir noch einige. Die Hummel fliegt, und das ganz schön hoch.

Salto mortale

An diesem Punkt könnten wir uns nun eigentlich bequem zurück lehnen und den Workshop zum vollen Erfolg deklarieren. Push und Pull in vielen Extremfällen erfolgreich abgeschlossen, kein einziges Bild des gesamten Workshops kam auch nur annähernd schlecht aus der Suppe und es gab für alle Teilnehmer reichlich Erfolgserlebnisse.

Eiiiiigentlich wäre es also hiermit vorbei… wäre da nicht Jürgen gewesen, der – ganz Hummel – meinte, die 4 Stufen Push seien ja wohl Pillepalle und sich auf die ISO 12800 stürzte. Zwölftausendachthundert. Wohl gemerkt mit einem Film, der eigentlich für ISO 400 gemacht ist.

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T-Max 400 @ 12800 (Jürgen)

Und zu solch einem Ergebnis muss man nun wirklich nicht mehr viele Worte verlieren. Vielleicht auch, weil man etwas sprachlos ist. 5 Blendenstufen, ISO 12800. Ausgeschrieben: ein zweiunddreißigstel des Lichts, das dieser Film eigentlich braucht.

Die Teilnehmer haben ihre kreativen Werkzeugkästchen wieder mit neuen Tools versorgt und wissen nun – nein, sie haben mit eigenen Händen und Augen BEGRIFFEN – dass es außerhalb der gängigen Lehrmeinung noch so einiges gibt, was den Rahmen herrlich (und fast schon subversiv) sprengt und dabei noch richtig glücklich macht.

Leute, wir sind mächtig stolz auf euch!

Folge Chris Marquardt:
Chris Marquardt ist Fotograf, als Autor schreibt er Fotobücher, und als Produzent hat er die Finger in mindestens sechs bis acht unterschiedlichen Podcast-Produktionen. Seit 2006 unterrichtet er internationale Fotoworkshops und veranstaltet Fotoreisen ans Ende der Welt. Chris ist regelmäßiger Gast im US-Radio, um dort fotografische Fragen zu erörtern. Gemeinsam mit Monika Andrae hat er das Buch Absolut analog verfasst und arbeitet an weiteren Buchprojekten. Mehr...
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